Es ist die 75. Minute des Derbys. Die Heimmannschaft führt 3:2. Alle Angriffsbemühungen der Gäste scheitern an der Defensive des Gegners. Da zeigt der Schiedsrichter eine Einwechslung für die Heimmannschaft an. Gehen muss die Nr. 10, aufs Spielfeld kommt der Trainer, der sich überraschenderweise selbst eingewechselt hat. Er nimmt sofort die zentrale Mittelfeldposition ein und fordert energisch den Ball. Seine irritierten Mitspieler versuchen zu passen, verlieren aber den Ball. Es kommt zum Konter der Gäste. Scharfe Flanke, Tor! Es steht 3:3. Die Heimmannschaft erscheint wie gelähmt. Der Trainer beschimpft sein Team und den Linienrichter. Die Gäste nutzen die Situation und schließen einen weiteren Angriff mit einem satten Schuss zum 4:3 ins Lattenkreuz ab. Und Abpfiff.
Jeder Fußballlaie weiß, dass das hier beschriebene Spiel so nicht stattfinden kann. Was als Strategie auf dem Rasen undenkbar ist, gehört hingegen in manchen Managementetagen zum Alltag, so Prof. Dr. Christoph Desjardins. Der Experte für Human Resource Management (HRM) und Leadership der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) legt im Vorfeld der Herren-Fußball EM dar, welche Taktik nicht aufgeht und was Führungskräfte von Fußballtrainer*innen lernen können.1
Aufgaben und Methoden von Trainer*innen
Trainer*innen können sich nicht einwechseln, sondern müssen in ihrer "Coachingzone" verbleiben. Sie müssen sich darauf konzentrieren, die Spieler*innen vor dem Match vorzubereiten und hinterher durch Spielanalysen die Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In der übrigen Zeit versuchen sie, durch intensives Training die Fähigkeiten der Spieler*innen weiterzuentwickeln, um ihr volles Potential ausschöpfen zu können. Dabei kommt der Nachwuchsförderung und der systematischen Heranführung neuer und junger Spieler*innen an das Team besondere Bedeutung zu. Dazu gehört inzwischen auch die Nutzung von Konzepten und Methoden aus der Sportpsychologie, um mentale Blockaden wie Versagensängste und negative Stressreaktionen zu verhindern.
Mangelndes Führungsverständnis bei Führungskräften
Was viele Führungskräfte von Fußballtrainer*innen unterscheidet, ist genau dieses Führungsverständnis. Sie verstehen sich eben nicht als Coach ihrer Mitarbeitenden, sondern als wichtigster Spieler auf dem Platz. Sie möchten am liebsten alle Tore schießen und den Applaus des Publikums bekommen und sehen ihre Mitarbeitenden lediglich als notwendige Passgeber*innen. Nur: Was im Fußball nicht funktioniert, funktioniert auch in Organisationen nicht optimal.
Zuerst einmal sind Führungskräfte nicht unbedingt die besten Expert*innen in ihrem Bereich. Die konkreten Ergebnisse einer Abteilung werden von den Mitarbeitenden erarbeitet, nicht von dem Chef oder der Chefin. Auch beim Fußball waren gute Trainer zuvor nicht unbedingt die besten Spieler, wie man an den Beispielen von Julian Nagelsmann und Jürgen Klopp sieht. Daher besteht die Gefahr, dass durch fehlende Delegation und permanente inhaltliche Einmischung in die operative Tätigkeit suboptimale Ergebnisse erzielt werden.
Versagen bei der Spielanalyse
Noch verheerender ist die Auswirkung der permanenten "Selbsteinwechselung" der Führungskräfte, welche die Effizienz des ganzen Arbeitsteams stark beeinträchtigt. Durch die zentrale Position, die Führungskräfte mit Vorliebe einnehmen, lähmen sie gleichzeitig ihre Mitarbeitenden. Diese sind bei ihrer Aufgabenbearbeitung von ihren "Pässen" abhängig, d.h. ohne ihr Feedback und ihre Zustimmung läuft nichts. Und da Führungskräfte nicht permanent zur Verfügung stehen können, blockieren sie durch dieses Rollenverhalten ihr Team, das ohne sie nicht "spielen" kann.
Auch bei der "Spielanalyse" als entscheidendem Anstoß für Verbesserungen versagen die meisten Führungskräfte. Feedback wird meistens unsystematisch gegeben und auf die Fehler fokussiert, die gemacht wurden. Diese Fehlerfokussierung gibt es zwar auch beim Fußball, hier aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass das fehlerhafte Verhalten systematisch und im Detail gezeigt wird und ganz konkrete Verhaltensempfehlungen zur Verbesserung gegeben werden.
Förderung von Mitarbeitenden
Ein weiterer wesentlicher Faktor für dauerhaften Erfolg im Fußball ist die kontinuierliche Nachwuchsförderung. Permanent werden potentielle Nationalspieler*innen beobachtet und erhalten die Möglichkeit, sich professionell weiterzuentwickeln. Insbesondere die Leistungssteigerung durch individuelles Training ist dabei ein wichtiges Thema.
Dagegen wird in vielen, insbesondere mittelständischen Firmen noch völlig auf eine individuelle Förderung verzichtet. Dabei ist den Führungskräften offensichtlich nicht klar, welche immensen Vorteile sie durch eine optimale Leistungsentwicklung ihrer Mitarbeiter*innen haben können. Im Gegenteil kann man eher beobachten, dass die persönliche Weiterentwicklung von Mitarbeitenden, z.B. durch Weiterbildungsmaßnahmen wie MBA-Programme, als Bedrohung angesehen wird, da diese Mitarbeitenden auf Basis ihrer erweiterten Kompetenzen Forderungen stellen oder die Abteilung aus Karrieregründen verlassen könnten.
Zwar ist der Vereinswechsel von Leistungsträger*innen auch im Fußball schmerzlich, trotzdem zeigen Clubs wie Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen, wie man sich mit der gezielten Entwicklung von jungen Talenten dauerhaft an der Spitze halten kann.
Führungserfolg
Warum also verharren so viele Führungskräfte in diesem offensichtlich unproduktiven Rollenverhalten?
Ein Grund ist sicher, dass man durchaus auch mit einem traditionellen Rollenverständnis wirtschaftlichen Erfolg haben kann. Was im Management fehlt, ist die Vergleichbarkeit der Führungsleistung und damit die Erkenntnis, dass der Erfolg deutlich größer sein könnte, wenn sich das Verhalten änderte. Im Fußball ist diese Vergleichbarkeit und Transparenz der Führungsleistung permanent und mit brutaler Offenheit gegeben. Der Tabellenplatz gibt schonungslose Rückmeldung über den Erfolg. Wenn die erwarteten Ergebnisse nicht erreicht werden, muss der Trainer bzw. die Trainerin gehen, nicht die Mannschaft. Denn der Fußball hat im Gegensatz zur Wirtschaft ein ganz klares und modernes Führungsverständnis: Es spielt das Team. Trainer*innen müssen alles für eine optimale Leistungsfähigkeit ihrer Mannschaft tun - das ist ihr Job und nur daran wird ihr Erfolg gemessen.
Zur Person:
Prof. Dr. Christoph Desjardins hat seit April 2023 an der Frankfurt UAS eine Professur für Human Resource Management (HRM) und Leadership. Er ist Diplom-Psychologe und hat im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie an der Goethe Universität promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Führung, Teamstrukturen und Change Management. Er ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Mixed Leadership (IML) der Frankfurt UAS. Vor seinem Ruf an die Frankfurt UAS war er Professor für HRM und Consulting an der Hochschule Kempten und dort zudem zehn Jahre lang Leiter der Kempten Business School. Davor war er als Berater und Manager bei der Firma Accenture tätig.
Weitere Informationen zum Fachbereich Wirtschaft und Recht unter: www.frankfurt-university.de/fb3
1Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Neuauflage folgenden Artikels: Desjardins, Christoph (2012) : Was Führungskräfte wirklich von Fußballtrainern lernen können!, in: Journal of Applied Leadership and Management, ISSN 2194-9522, Hochschule Kempten - University of Applied Sciences, Professional School of Business & Technology
Kontakt:
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich Wirtschaft und Recht
Prof. Dr. Christoph Desjardins, Telefon: +49 69 1533-2995, christoph.desjardins(at)fb3.fra-uas.de
Quelle: www.frankfurt-university.de